Die Neuerfindung der ALBERTINA: Klaus Albrecht Schröder über seine Vision des Museumshauses
von Wolfgang Tonninger
Man kann sich das heute schwer vorstellen, denke ich mir, als wir stufenlos hinaufgleiten, ins Erdgeschoss der elf Meter über dem Straßenniveau thronenden ALBERTINA. Wie umstritten diese architektonische Intervention mit Flugdach und Rolltreppe damals war. Und wie marode die Graphische Sammlung ALBERTINA vor sich hindümpelte, bevor sie 1999 von Klaus Albrecht Schröder ihrem neuen Direktor wachgeküsst, an der Hand genommen und ins 21. Jahrhundert geführt wurde.
Diesen Moment, diese märchenhafte Reise empfindet er auch heute noch, als das größte Glück, das ihm in seinem Leben widerfahren konnte. „Von einem neuen Burgtheaterdirektor erwartet man, dass er ein Programm erstellt, dass sich von seinem Vorgänger unterscheidet, aber er kann davon ausgehen, dass Bühne, Zuschauerraum und Probebühnen stehen. Ich habe ein neues Burgtheater gegründet. Ich habe ein Programm entwickelt und dafür auch die Standorte gebaut.“
Ich notiere: Kunst muss inszeniert werden und weiß jetzt auch, in welcher Liga mein Gegenüber spielen will und spielt. Und so machte er in einer seltsam kurzen Zeit aus einer Grafiksammlung für Spezialisten – mit sieben bis elftausend Besucher*innen pro Jahr und einer Ausstellungsfläche von 120 m² – ein international renommiertes Museum mit fünf Sammlungen an drei Standorten auf 15.000 m² und Besucherzahlen, die jedes Jahr die Millionengrenze sprengen. Mit dem breitenwirksamen Konzept, „die Bahnbrecher der Kunstgeschichte in großen Retrospektiven zu zeigen.“ Dazu kamen spektakuläre Übernahmen bedeutender Sammlungen, wie die von Herbert und Rita Blatliner im Jahr 2007 – mit Werken von Monet, Matisse, Modigliani, Cézanne, Miró, Chagall, Picasso, Giacometti und Bacon, um nur einige zu nennen –, die eine in Wien bis dahin schmerzlich vermisste permanente Schausammlung der Kunst der internationalen Moderne ermöglichten.
Die Krise als Sprungbrett
Klaus Albrecht Schröder ist zweifellos keiner, der eine Kartoffel im Mund hat, wenn er spricht. Seine sonore Stimme ist für den ehemaligen Radiosprecher Garant dafür, dass seine Ideen auch ankommen. Und Ideen hat er genug. Genauso wie eine gehörige Portion Anpackmentalität, wenn es um die Vermittlung von Kunst geht. Trotzdem verwehrt er sich, als Kulturmanager bezeichnet zu werden, weil man, wie er sagt, erstens Kultur nicht managen muss und zweitens ein Manager jemand ist, der verwaltet, verbessert, effizienter macht und gegebenenfalls Kosten einspart, wenn es eng wird, jedoch keiner, der so wie er – in der größten Krise der ALBERTINA – eine tiefgreifende Neupositionierung vornimmt. „Ich hatte dazwischen auch Angebote, etablierte Museen zu übernehmen, die man gut führt, indem man sie gut verwaltet. Aber dieses Angebot war eine einmalige Herausforderung, weil es meine Leidenschaft genauso wie meine Talente angesprochen hat. Da gab es so viel brachliegendes Potenzial und so viel Gestaltungsspielraum. Ich wollte gestalten. Und ich wusste: Ich kann gestalten.“
Wie ernst er das mit dem Gestalten meinte, zeigte Schröder gleich in den ersten drei Jahren seiner Amtsführung, in denen er keinen Stein auf dem anderen ließ, um seine Vision einer einmaligen Symbiose aus historischem Palais, Kunstsammlung und modernem Museum und damit auch die „Unteilbarkeit des Künstlerischen“ in der Ausstellungsrealität zu verwirklichen. Schröders unmissverständliches Verdikt über den damaligen Zustand des Hauses: „Die ALBERTINA hatte damals ja nicht nur die größte und bedeutsamste Grafiksammlung der Welt, sie war es damals auch. Ein USP, der ihr über die Jahre zur Achillesferse geworden ist.“ Ein österreichisches Trauerspiel.
Vertrauen als Fundament und Baustoff
Der desaströse Zustand der ALBERTINA brachte im Umkehrschluss für Klaus Albrecht Schröder ein ganzes Bündel an Freiheiten, zumal es damals auch einen großkoalitionären Konsens gab über seine Bestellung. Aber was nützen die Freiheiten dem, der kein Geld hat und nur 100 Quadratmeter Ausstellungsfläche zur Verfügung? Richtig: Nichts. Das heißt, zunächst einmal brauchte Schröder Geld, genauer gesagt Millionen, denn von staatlicher Seite war nichts zu erwarten. Millionen, um die Propter-Homines-Halle und die Kahn-Galleries zu errichten. Millionen, um das historische Ensemble mit den habsburgischen Prunkräumen zu renovieren und damit ein janusköpfiges Museum zu konzipieren, das mit einem Bein historisch verwurzelt ist und mit dem anderen im 21. Jahrhundert ankommt. Ein Spagat, der ohne „Public Trust als zentralen Pfeiler eines modernen Museumsbetriebs“ nicht möglich gewesen wäre, wie der visionäre Praktiker Schröder betont. „Ohne die unglaublichen Förderer, die darauf vertrauten, dass ich nicht nur die richtige Vision verfolge, sondern auch den langen Atem habe, sie umzusetzen, wäre damals nichts gegangen.“
Die Stärken von Schröders Ansatz zeigen sich exemplarisch in der Aufgangslösung mit Rolltreppe und Flugdach – als Teil einer sorgfältig durchdachten Neuinszenierung, die sich ganz nah am historischen Erbe bewegt, dabei aber die Außenwirkung immer mitdenkt. Mit dieser damals gewagten Intervention des Architekten Hans Hollein setzte er nicht nur ein Zeichen des Neuanfangs. Durch die Verlegung des Haupteingangs der ALBERTINA an seinen ursprünglichen Ort schuf er gleichzeitig neue Ausstellungsachsen und -zonen für den Betrieb und für den Besucher ein Schleusensystem der Verlangsamung. Womit wir im Zentrum der Schröderschen Visionen angekommen sind: der Würdigung des Kunsterlebnisses in einer völlig zerstreuten Welt.
Eine neue Kultur in Sachen Qualität und Führung
Und in der Tat fällt auf, wenn man die ALBERTINA betritt, dass da wenig Klimbim herumsteht und diese Schleusen der Verlangsamung ganz wesentlich zur Fokussierung beitragen. So wie früher im 19. Jhdt. Bahnhöfe die Aufgabe hatten, auf die mit dem Geschoss Zug einhergehende Beschleunigung vorzubereiten[1], muss man heute umgekehrt Menschen auf diese Verlangsamung hinführen. Auf den Skandal, dass da einfach ein Ding hängt, alles still ist und sich nichts bewegt. ‘I couldn’t agree more,’ schießt es aus Schröders Mund. Wir sind im Zentrum angekommen, wie es scheint. „Das Museum verkörpert eine andere Welt und eine andere Art, wahrzunehmen. Es ist ein Ort, an den ein ganz bestimmtes Erlebnis wartet. Wir gehen ja nicht nur ins Museum, um Rembrandt, Rubens, Van Gogh, Picasso, Michelangelo oder Chagall zu sehen. Sie alle spielen eine ganz, ganz große Rolle. Aber es ist nicht nur das Objekt, das an der Wand hängt oder die Skulptur, die im Raum steht – das ist eine Illusion. Genauso wie es eine Illusion ist, dass wir dann für zwei Stunden wie angewurzelt vor dem Kunstwerk stehen und es betrachten. Es ist das Licht, der Raum, der uns umfängt, der Geruch, die Farben, die Nähe zu Gleichgesinnten – ein Gesamterlebnis, das die museale Erfahrung ausmacht.“
Und dieses ganz bestimmte Erlebnis gilt es heute in einer schrillen Welt, die zunehmend aus den Fugen gerät, wiederherzustellen. Deshalb, so Schröder, sei es falsch zu versuchen, mit dem Film zu konkurrieren, wo das Prinzip Action herrscht und „mittlerweile so verrückt schnell geschnitten wird, dass selbst die ikonische Dusch-Szene bei Hitchcock anmutet, wie in Slow-Motion gedreht. Wir arbeiten in die entgegengesetzte Richtung. Wir schockieren durch Langsamkeit – und helfen dem Betrachter auf subkutane Weise, vom Gas zu gehen.“
[1] Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert
Die Schönheit des Andersseins
Diesen Zugang verfolgt Schröder mittlerweile nicht nur für das Haupthaus, sondern auch für die neuen Außenstellen ALBERTINA MODERN (2020) und ALBERTINA KLOSTERNEUBURG (2024) – auch wenn es dort vielleicht etwas bunter und lauter zugeht als in der Kernsammlung der alten weißen Männer am Albertinaplatz 1. „Natürlich ist die Welt diverser geworden. Das verlangt von den Ausstellungsmacher*innen einen Ansatz, der auch marginalisierte, unterprivilegierte, außereuropäische, indigene und feministische Kunst einbezieht. Diese Diversität betrifft jedoch nicht nur die Künstler und Werke, sie betrifft auch den Zugang zur Kunst. Ich finde es wunderbar, wenn Menschen vor einem Kunstwerk miteinander reden, lachen oder albern sind. Museen sind Orte der Begegnung. Stille kann auch bedrohlich sein und verlogen.“
Der scheidende Direktor bleibt auch im Abschied ein streitbarer Mensch. Sein Blick zurück erfolgt ohne Wehmut. „Was vorbei ist, ist vorbei. Ich bin sehr dankbar – auch dem Zufall und den Menschen, die mich auf meinem Weg unterstützt haben. Wenn jemand glaubt, sein Leben nur sich selbst zu verdanken, dann unterliegt er einem großen Irrtum. An den Abzweigungen und Kreuzungen, wo man sich links oder rechts wenden kann, raufgeht oder runterfällt – da regiert der Zufall, und da ist immer irgendwo jemand, der einem hilft, der eine Chance bietet. Was man dann unternehmerisch daraus macht, steht auf einem anderen Blatt.“
Also doch Kunstunternehmer? „Nein. Unternehmer bin ich, weil ich mich den Menschen, die zu uns ins Museum kommen, verpflichtet fühle. Mein Verhältnis zur Kunst ist das eines Kunsthistorikers. Alles andere ist despektierlich. Denn am Ende des Tages bin ich da unten auf der Erde, und die wirklich großen Künstler sind oben im Olymp. Wir bewundern sie von unten.“
Klaus Albrecht Schröder
Geboren 1955 in Linz
1976 bis 1983 Studium der Kunstgeschichte und Geschichte
1981 bis 1983 Radiosprecher beim ORF
1985 bis 2000 Direktor des BA-CA Kunstforums
Seit 1996 Präsident der Interessensgemeinschaft österreichischer Museen und Ausstellungshäuser (IMA).
1996 bis 1999 Vorstandsmitglied und kaufmännischer Direktor der Stiftung Leopold und Baukoordinator des Leopold Museums
Ab 1996 für 3 Jahre Neuorganisation der Salzburger Museen, Errichtung und Planung des Museums am Mönchsberg
1999 bis 2024 Direktor der ALBERTINA
Über die ALBERTINA:
- 1776 Gegründet von Herzog Albert von Sachsen-Teschen
- 1999 von Klaus Albrecht Schröder übernommen
- 2024 1,1 Millionen Kunstwerke
- In den 25 Jahren der Direktion Schröder wurden Tausende Kunstwerke im Wert von über 2 Milliarden EURO gewonnen
- Über 85 Millionen Euro bezahlten Sponsoren und Mäzene für Renovierung, Modernisierung und bauliche Erweiterungen
- 3 Standorte: ALBERTINA, ALBERTINA MODERN (2020), ALBERTINA KLOSTERNEUBURG (2024, Sammlung Essl)
- 5 Sammlungen: Grafische Sammlung, Fotosammlung (1999), Architektursammlung und Prunkräume (2001), Klassische Moderne (2007), Contemporary (2014)
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