Langweilig ist gut.
von Hermann Wonnebauer
Jetzt ist mir eine Schlagzeile ins Auge gestochen: „Einfach abschalten? Das Kreuz mit der ständigen Erreichbarkeit“. Sind wir jetzt schon dort, dass wir uns per Gesetz vorschreiben lassen müssen, wann wir unsere Handys abschalten?
Sind wir schon so weit, dass Aufregung behandelt werden muss wie zu hoher Blutdruck? Und müssen heute Freiräume per Verordnung geschafft werden?
Mir liegt es fern, über die Vorzüge der modernen Technologie zu klagen. Wir alle profitieren davon. Wenn wir aber nicht auf uns achtgeben, werden wir ein Teil einer „Just-in-time“- Gesellschaft.
Geht es Ihnen auch so, dass Sie das Gefühl haben, jeden Anruf, jede Nachricht unmittelbar, das heißt sofort beantworten zu müssen? Weil Sie wissen, dass es als Unhöflichkeit gewertet wird, wenn Sie sich mit Ihrer Antwort mehr als eine Stunde Zeit lassen. Ist das die Freiheit, die uns die Technik mitgebracht hat? In meinem Beruf – in der Vermögensverwaltung – ist diese Hektik fast schon ein falsch verstandenes Zeichen von Professionalität.
Früher gab es eine Tageszeitung, in der man die Aktienkurse vom Vortag lesen konnte (wenn man überhaupt Aktien hatte). Und es gab sogar einen amtlichen Schlusskurs. Naheliegend war, dass Banken mit Anlegern, die keine Transaktionen tätigten, wenig verdienten. Also begann man mit „Anlageberatung“. Täglich wurden Anlagetipps gratis ausgetauscht, um möglichst viele und große Käufe und Verkäufe abschließen zu können. Damit klimperten die Münzen im Sack der Broker. Und manchmal war das auch ganz gut für die Kunden …
Wo bleibt die Gelassenheit, wo bleibt die Entspannung? Wo bleibt das Vertrauen?
Und dann tauchte plötzlich im Fernsehen der „Ticker“ auf – das Laufband der Börse, welches die sich ständig ändernden Kurse zeigt. Ein plakatives Symbol für eine atemlose Stimmung für alle Investoren – jetzt, jetzt, jetzt, musst du dabei sein – schon wieder was verpasst! Dieser Umstand führt dazu, dass der eigentliche Zweck – Vermögen aufzubauen und zu erhalten – mehr und mehr in den Hintergrund gerät. Spekulieren wird zum Selbstzweck, ein rascher Gewinn erhöht die Stimmung, ein Verlust vermiest den ganzen Tag – aber morgen gibt es ja wieder eine Chance!
Hastig, unruhig, stets aufgeregt verfolgen wir die Geschehnisse und befürchten, dass jeder Schluckauf der Weltpolitik sich auf das Vermögen auswirken könnte (zur Vorsicht mal am Handy nachschauen – tatsächlich: in den letzten fünf Minuten 0,27 % verloren, was für ein Tag!!!). Nun sind neben dem Internet auch noch die sozialen Medien auf den Zug aufgesprungen. Weltweit kann man rasch, mit ein paar Klicks, Gleichgesinnte finden und zu Transaktionen bewegen, für die man in den aufgeregten Tagen der Internetblase sogar eingesperrt worden wäre.
Der größte Schritt für einen Anleger, für eine Investorin ist, dass man eine Bank als Partner gefunden hat, die ihre Sache versteht und das Vermögen unaufgeregt verwaltet (ich kenne da eine recht gute!). Mit dem Effekt, dass man sich als Kunde zurücklehnen und durchatmen kann.
Vertrauen funktioniert wie eine Wette mit der Zukunft. Wir vertrauen darauf, dass jemand anderer die richtigen Dinge tut. Wir geben einen Vertrauensvorschuss und hoffen, dass der Partner dieser Bevorschussung durch sein Handeln gerecht wird. Die Gelassenheit, die durch Vertrauen möglich wird, schafft Distanz und Entspannung.
Das ist gar nicht leicht in der heutigen Zeit, in der wir ständig über alles am Laufenden gehalten werden wollen. Kein Wunder, dass ein bisschen Mikro-Management fast überall drinsteckt. Aus gesetzlichen Gründen bekomme ich ohnehin pro Quartal einen Bericht über meine Werte – das bekomme ich übrigens von meinen Immobilien nicht, warum eigentlich? Zusätzlich aber habe ich E-Banking, in der höchsten Ausbaustufe mit sich ständig aktualisierenden Kursen. Nur: Wenn ich ständig meinen Puls messe, macht mich das auch nicht gesünder.
Warum wir das alles machen? Weil es möglich ist!
Mich würde interessieren, wie viel Milliarden Sekunden täglich vergeudet werden, nur um nachzuschauen, wie das Wertpapierdepot steht. Und das von Personen, die mit Sicherheit Wichtigeres zu tun hätten – u. a. Nationen und Unternehmen zu führen, wichtige Entscheidungen zu treffen – oder sich einfach nur zu entspannen.
Warum wir das alles machen? Weil es möglich ist! Und weil es uns ablenkt. Es lenkt uns ab vom Schwierigen, weil Langfristigen. Wenn ich ununterbrochen in emotionaler Bewegung bin, kann ich nicht stehen bleiben, kann nicht den Kopf heben, um zu erkennen, wo ich eigentlich bin. Ich kann nicht tief ein- und ausatmen, um Ruhe und Kraft zu gewinnen. Ich glaube, in Bewegung zu sein, werde jedoch eher hin- und herbewegt als Marionette der hochgepushten Mobilität.
Sich orientieren hieße stehen bleiben. Und hieße auch, dass man den Informationsfluss unterbricht, weil jedes Mehr an Information keinen Orientierungsgewinn mehr bedeutet. Bewegung ist nicht alles (müßig zu erwähnen, dass meine Bewegungen aufgezeichnet und gespeichert werden). Kann es sein, dass ich unter dem Radar laufe, wenn ich stillstehe? Kann ich überhaupt noch getrackt werden, wenn ich den Atem anhalte? Langweilig ist gut.
Manchmal wäre ein „Viertelanschluss“ wieder ganz hilfreich. Manchmal wäre „warten müssen“ eine Bereicherung. Manchmal wäre „sich auf etwas freuen“ angebracht. Manchmal wäre „etwas nicht zu wissen“ wieder mal ganz gut.
Aber wo kämen wir da hin, frage ich Sie? Vom Hundersten ins Tausendste? Zu einem Vermögensberater, der sich in seinem Text verliert? Sie entschuldigen mich, ich muss schauen, was die Börsen so machen …
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