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Schmetterlinge fangen - Versuch über das Glück

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Es gibt wohl kaum jemanden, der es nicht fangen will. Das Glück. Vielleicht, weil es so flüchtig ist. So schwer zu halten. Und wenn man glaubt, es zu haben, ist es schon wieder weg. Es ist, als ob das Glück einen Raum in uns beansprucht, dessen Tür man tunlichst geschlossen halten sollte. Damit es sich nicht mit unserem Wollen vermengt.

Der griechische Philosoph Aristoteles meint, dass fast alles, was wir in unserem Leben tun, darauf abzielt, unser Glück zu vergrößern. Was ja grundsätzlich gut wäre.
Die Frage ist, ob wir es nicht mit dem falschen Visier versuchen, mit der falschen Einstellung oder mit den falschen Mitteln. Denn solange uns das Gefühl des Mangels leitet, werden wir schwer ins Genießen kommen. Wir werden unter der Hand zu Sklaven unseres Appetits und wissen insgeheim, dass wir nicht satt werden, wenn wir immer nur auf den Teller des Nachbarn schielen. Wir wollen das, was andere haben. Nur ein bisschen größer, ein bisschen schneller, ein bisschen bunter. Dass wir damit das Glück nicht fassen, liegt auf der Hand. Und dass der Konsum mitunter den Genuss verbaut, ebenso. Der bekannte Gehirnforscher Gerald Hüther geht so weit zu behaupten, dass Konsum und Glück sich ausschließen: Wer glücklich ist, kauft nicht, denn er hat sich entschieden, die Fülle zu sehen und nicht den Mangel.

Fest steht, dass nicht jedes Bedürfnis uns weiterbringt – auf der Suche nach dem Glück. Und dass der Ich-Panzer, der uns vom Rest der Welt abschottet, die Reise zusätzlich erschwert. Glücksvermehrung gehorcht jedenfalls anderen Gesetzen als Besitzvermehrung. Das zeigt auch die Rangliste der glücklichsten Länder der Welt. Hier rangiert Mexiko vor Australien, obwohl dort das Pro-Kopf-Einkommen von 7.000 USD im Jahr fünf Mal kleiner ist. Eine Erklärung liefern die Journal of Happiness Studies: „Sobald man einen annehmbaren Lebensstandard erreicht hat, ungefähr das heutige Niveau von Mexiko, vermehren weitere Wohlstandssteigerungen das Glück nicht mehr.“

Mit anderen Worten können Marktwirtschaften uns dabei helfen, aus dem Sumpf von Armut und Unterdrückung zu steigen. Güter, die darüber hinaus unser Wohlbefinden vermehren, produzieren sie jedoch nicht. Die isländische Psychologin Dora Gudrun Gudmundsdottir, deren Land diese Rangliste anführt, kommt nach eingehender Analyse zu dem Ergebnis, dass nur 4 % des Glücks auf Island mit dem Geldeinkommen zu tun haben. Über den Rest, also die 96 %, sollten wir uns Gedanken machen. Die Isländer sind sich ihrer Sache jedenfalls sicher. So sicher, dass sie ihre „Zehn Gebote der seelischen Gesundheit“ auf Kühlschrankmagnete drucken und an jeden Haushalt des Landes verschicken.

» Das Glück ist wie ein Muskel, der wächst, wenn man ihn trainiert. «

Innen und außen

Die Frage ist: Bedeutet Glück für eine isländische Krankenschwester dasselbe wie für einen japanischen Autorennfahrer oder einen Schweizer Rentner? Und ist Glück wirklich das, wonach alle streben? Oder ist es nicht vielmehr so, dass wir dem Erfolg oder dem, was die Gesellschaft uns als erstrebenswerte Ziele vorgibt, nachjagen und dabei auf das Glück vergessen? Das wahre Glück wohlgemerkt und keine vergängliche Empfindung, die sich bei einem kühlen Bier einstellt oder wenn wir uns nach der Arbeit auf die Couch fallen lassen. Für den Psychologen Robert A. Cummins, der seit 2001 das Glücksniveau der Australier misst, ist Glück ein tiefgreifender emotionaler Zustand, der wie eine Gemütslage präsent ist, auch wenn wir gerade keine akute Glückswallung erleben.

Wenn zwei Menschen vom Glück reden, können sie ganz Verschiedenes meinen. Was im Englischen sauber getrennt wird – „luck“ (Glück haben) und „happiness“ (glücklich sein) –, ist im Deutschen in einem Wort untergebracht, was die Sache nicht unbedingt erleichtert. Wir haben Glück im Lotto oder wenn wir am Wochenende dem Stau entkommen, sind aber deswegen noch lange nicht glücklich. Gleichzeitig verbringen wir viel Zeit damit, über Dinge zu klagen, die wir nicht haben, oder über Dinge, die uns zugestoßen sind und die wir nicht ändern können. Was wir dabei übersehen, ist, dass Glück nicht von außen kommt und auch kein Ziel, sondern eher eine Reise ist, auf die man sich begibt. Dazu müssen wir aufhören, uns permanent mit anderen zu vergleichen und ihr außen schillerndes Glück argwöhnisch zu betrachten. Wie das Glück von innen aussieht, werden wir nur erfahren, wenn wir dort hingehen, wo wir bei uns selber sind.

Erfolgreiche Sportler wissen, dass sie sich auf den Sieg konzentrieren müssen und nicht auf die Niederlage. Warum konzentrieren sich dann Menschen, die ihr Glück vermehren wollen, auf ihr Unglück? Oder ihre Defizite? Das Glück ist wie ein Muskel, der wächst, wenn man ihn trainiert. Einen entscheidenden Trainingshinweis dazu liefert erneut Aristoteles, der das Glück als Fähigkeit beschreibt, „als Person zu erblühen, das zu besitzen, was für einen Menschen am wertvollsten ist, seinem eigenen Geist treu zu bleiben“. Glück als Gegenstück zur Entfremdung? Wir kommen der Sache näher.

» Bei glücklichen Menschen pulsiert das Blut schneller. «

Der Filmemacher Chris Marker erzählt von einer chinesischen Prinzessin, die es liebte, Listen von Dingen zu erstellen, die ihr wichtig waren. Bis sie einmal die Liste der Dinge erfand, die ihr Herz schneller schlagen lassen. Könnte dies ein Motto sein, nicht nur für seinen Film, sondern auch für diesen Text? Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass bei glücklichen Menschen das Blut schneller pulsiert. Drei bis fünf Herzschläge sollen das Glück vom Normalzustand trennen.

Wo aber bitte liegt das Glück, wenn es nicht auf der Straße liegt?

Glück hat mit Begeisterung zu tun und beginnt im eigenen Kopf. Genauer: in einem Zellhaufen im Mittelhirn. Hier wird der Botenstoff Dopamin hergestellt, ein Hormon, das nicht nur unser Glücksempfinden steigert, sondern auch dafür sorgt, dass neue Synapsenverbindungen entstehen. Wenn Kinder sich für etwas begeistern, bleibt die Zeit rund um sie stehen. Sie saugen die Umgebung auf und werden eins mit ihr. Sie zeigen uns, dass Glück im Hier und Jetzt zuhause ist oder nirgendwo; dass Glück ein Seinszustand ist, den es wiederzufinden gilt. Manche nennen diesen Zustand Flow – eine Erfahrung, in der wir vollkommen aufgehen und nichts mehr um uns herum wahrnehmen, nicht einmal Hunger, Hitze, Kälte oder Verlegenheit.

„Glück ist, was wir tun und was wir zu erreichen versuchen, oft trotz all der Dinge, die um uns herum geschehen. Glück ist, feiern zu können, wer wir sind und was wir tun. Feiern zu können, sogar unter widrigen Umständen,“ meint Wasundhara Joshi, Kinderärztin in Mumbai (Indien), die in ihrem Leben schon viel Unglück gesehen hat. Wasundhara Joshi erzählt von zwei Frauen, die dasselbe Schicksal teilen und trotzdem ganz verschieden sind in ihrem Wohlbefinden: „Der entscheidende Unterschied liegt in der Geschichte, die diese Frauen sich darüber erzählen, wer sie sind“ und ob sie sich in ihrem Leben als Gestaltende oder Erleidende begreifen. Das hat auch damit zu tun, wie wir mit den Menschen, die uns umgeben, in Kontakt treten. Folgerichtig ist im „World Book of Happiness“ auch von einer zwischenmenschlichen Dimension des Glücks die Rede, die weltweit zu gelten scheint; unabhängig davon, ob man – wie in westlichen Kulturen – eher das Glück des Einzelnen betont oder – wie in östlichen Kulturen – die Gemeinschaft eine stärkere Rolle spielt. Dass Geben glücklicher macht als Nehmen, erleben wir jeden Tag mit unseren Kindern. Vielleicht ist ja das Glück ganz grundsätzlich nur im Gegenüber sichtbar, wie das I Ging – das chinesische Buch der Wandlungen – nahelegt?

Die Lehre vom Bruttosozialglück

Aber was tun wir dann, wenn unsere Umwelt eine feindliche ist oder die Werte nicht teilt, die uns selbst wichtig sind? Die gute Nachricht: Wir haben keine Wahl. Wir müssen bei uns selbst beginnen. Dass das im Großen genauso geht wie im Kleinen, zeigt das Königreich Bhutan seit einigen Jahren der ganzen Welt. Im „Land des Donnerdrachens“ hat man sich entschieden, der „Diktatur des Bruttoinlandsprodukts“ mit einer Philosophie des „Bruttosozialglücks“ entschlossen entgegenzutreten, und behauptet sich seitdem durchaus erfolgreich als kleine, widerständige Insel in einer globalisierten und entfesselten Marktwirtschaft.

Im Gegensatz zu westlichen Vorstellungen hat Bruttosozialglück nichts mit Gute-Laune-Glück zu tun. Es ist im buddhistischen Konzept des Mitgefühls verankert, der Verbesserung des Glücks aller Wesen. Ganzheitlich. Nicht nur den Einzelnen, sondern auch den Menschen als Spezies übersteigend. Es ist Kultur, Entwicklungsstrategie, aber auch Messlatte für psychisches Wohlbefinden, Gesundheit, Zeitverwendung, Bildung, kulturelle Vielfalt, Widerstandskraft, Vitalität und gute Führung. Und es hat sehr konkrete Auswirkungen auf politischer Ebene. Bürger haben kostenlosen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Die Alphabetisierung beträgt nahezu 100 %. Ein Großteil des Waldes steht unter Schutz. Werbung im öffentlichen Raum ist verboten. Es gibt Maßnahmen für eine hundertprozentige Bio-Landwirtschaft und Importbeschränkungen für Autos und Hubschrauber. Um seine Werte zu verteidigen, hat sich Bhutan entschieden, nicht der Welthandelsorganisation (WTO) beizutreten. Buthan schaut auf die anderen – aber ohne Neid, sondern mit einem gesunden Selbstvertrauen. Und die ganze Welt schaut staunend zurück.

Die ganze Welt? Zumindest jener Teil, für den Glück keine leere Hülle ist, in die man beliebig Konsumzwänge packen kann. Die Versuchung ist groß, denn der Glücksmarkt boomt. Nichts lässt sich leichter verkaufen als ein Glücksversprechen, wie vage es auch ist. Die Frage ist, wie wir da wieder herauskommen – in einer Welt, die in einer Flut von Anweisungen zum schnellen Glücklichsein zu ertrinken droht, wie Paul Watzlawick festhält. Am Ende seiner berühmten „Anleitung zum Unglücklichsein“ steht ein Zitat aus den „Dämonen“ von Fjodor M. Dostojewski: „Alles ist gut … Alles. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiß, dass er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Wer das erkennt, der wird gleich glücklich sein, sofort, im selben Augenblick …“

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Glück ist eine Reise, die bei uns selbst beginnt. Foto: © RichVintage

Die Kunst des Weglassens

Es tut so gut, sich von Dingen zu trennen, die man nicht braucht. Ballast abwerfen, Altlasten entsorgen, den Schreibtisch aufräumen, den Dachboden entrümpeln oder den Kleiderschrank entschlacken. Sich von Dingen trennen, die einen eigenartigen Druck entfalten, wenn sie nicht gebraucht werden. Apropos Kleiderschrank. Dass Lebenskunst eine Kunst der Reduktion ist und Mode alles andere als eine Oberflächendisziplin, hat einst die Modeschöpferin Coco Chanel mit der Erfindung des „kleinen Schwarzen“ demonstriert, eines schmal geschnittenen Etuikleides aus schwarzer Chinaseide, kniebedeckend, mit engen langen Ärmeln, dessen Zauber noch heute darin besteht, alles Überflüssige wegzulassen und sich aufs Wesentliche zu beschränken. Ein Allerweltsmodell sollte es sein, in dem Frauen ihre Trauer, aber auch ihren Wunsch nach Zukunft ausdrücken konnten.

Um das Wesentliche im Leben ging es auch Henry David Thoreau, der sich am Unabhängigkeitstag des Jahres 1845 in einen Wald in Massachusetts zurückzog, um in einem Selbstversuch dem menschlichen Glück und den Prinzipien des einfachen Lebens nachzustellen – aus Protest gegen die unselige Verbindung von Fortschritt, Verschwendung und sittlichem Verfall: „Ich wollte nicht leben, was kein Leben war; noch wollte ich Entsagung üben, wenn es nicht unumgänglich nötig war. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen und so standhaft und spartanisch leben, um alles, was nicht Leben war, davonzujagen. Ich wollte einen breiten Schwaden dicht am Boden mähen, das Leben in die Enge treiben und auf seinen einfachsten Nenner bringen.“

Thoreaus Einsiedelei war eine Antwort auf ein mit der Industrialisierung einsetzendes Wachstum, das völlig neu war. Zuvor gab es so etwas nicht. Da wuchs die weltweite Wirtschaft nach Berechnungen von Historikern der Weltbank um jährlich weniger als ein Zehntelpromille (0,01 Prozent). Erst Mitte des 18. Jahrhunderts gab es ein Ansteigen auf zwei Promille pro Jahr (0,2 Prozent). Das ging dann die nächsten zweihundert Jahre so weiter, bis um 1950 in den westlichen Industrieländern der entscheidende Knick kam und die Fieberkurve sich aufstellte – auf mehr als zwei Prozent. Seitdem setzen wir auf krebsartiges Wuchern anstatt auf gesundes Wachstum. Und müssen ständig die Dosis erhöhen.

In der kultigen TV-Serie aus den 1970er-Jahren „Der ganz normale Wahnsinn“ möchte der Journalist Maximilian Glanz ein Buch mit dem Titel schreiben: „Woran es liegt, dass der Einzelne sich nicht wohlfühlt, obwohl es uns allen so gut geht.“ Damit bringt er den Widerspruch, an dem viele leiden, auf den Punkt: Es geht uns nicht gut, weil wir das, was wir haben, nicht wollen, und das, was wir wollen, nicht haben. Zwischen unseren Abhängigkeiten und unseren Wünschen klafft ein schwarzes Loch, in dem wir wie Spaghetti auseinandergezogen werden. Weil der Mangel – das Gefühl, zu wenig zu haben und zu wenig zu sein – sich in unsere Köpfe gefressen hat, können wir nicht mehr ruhig sitzen. Und sind geblendet von den Möglichkeiten, die uns umgeben. Dabei lehnen wir uns immer weiter hinaus in eine Zukunft, der langsam, aber sicher die Ressourcen abhandenkommen.

Doch am Ende allen Wollens fallen wir auf die Gegenwart zurück. Wie überführte Kreditschwindler stehen wir nun vor dem Augenblick – und der Frage, die wir uns bislang nicht zu stellen trauten: Was tun wir, wenn wir unsere Anleihen auf die Zukunft verbraucht haben, bevor wir satt geworden sind – geschweige denn glücklich?

ZKB_20210519_Magazin_Artikel_Schmetterlinge-3Die Neurobiologie des Glücks

Vor etwa 50 Jahren entdeckte man bei Experimenten mit Ratten zufällig, dass diese von der elektrischen Stimulation eines bestimmten Gehirnareals gar nicht genug bekommen konnten. Die Ratten durften in diesen Experimenten diesen elektrischen Reiz für diese Gehirnregion durch Drücken auf einen Hebel selbst auslösen und drückten in der Folge den Hebel immer häufiger. Manche Tiere vergaßen dabei sogar zu essen und zu trinken, und starben, offensichtlich süchtig danach, durch das Hebeldrücken belohnt zu werden.

Die daraus entstandene Neurobiologie des Glücks hat in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends große Fortschritte gemacht, sodass man die neuronalen Strukturen ziemlich genau kennt, die an diesen Glückserlebnissen beteiligt sind: Tief im Mittelhirn liegt eine kleine Ansammlung von Neuronen,im Fachjargon als A10 bezeichnet, die den Botenstoff Dopamin produzieren und in den Nucleus accumbens und ins Frontalhirn weiterleiten. Diese Neuronen feuern immer dann, wenn ein Ereignis besser ausfällt als erwartet. Im Nucleus accumbens führt das Dopamin dazu, dass Endorphine produziert und ins Frontalhirn ausgeschüttet werden. Dieses Dopamin bewirkt, dass das Frontalhirn besser funktioniert, sodass man unter diesem Einfluss z. B. auch besser denken und lernen kann. Das Glücksempfinden ist vermutlich nur ein Nebenprodukt des menschlichen Lernvermögens und ist auch nicht auf „Dauerbetrieb“ angelegt, denn Gewöhnung sorgt schon bald dafür, dass man sich nicht allzu lange glücklich fühlt oder wie Süchtige die Dosis erhöhen muss.

Nie ist zu wenig, was genügt

Neue Ziele auszugeben, hilft hier wenig, weil sie uns wieder in die Zukunft werfen. Je mehr Zukunft, umso weniger Gegenwart. Das ist ein Faktum. Aber wie soll das gehen – in einer Gesellschaft, in der Zielstrebigkeit fast alles ist und jemand, der sein Ziel aus den Augen verliert, als Verlierer gilt, als Taugenichts? Vielleicht gelingt es mit einem Trick, indem wir den Zukunftspfeil so abschießen, dass er jeden Moment auf die Gegenwart herunterfällt; uns auf den Weg machen, ohne ein Ziel auszugeben. Einfach nur gehen, Schritt für Schritt. Ganz aufgehen im Gehen. Ohne Ziel im Kopf. Nicht fünf Schritte voraus oder fünf Schritte hinterher, sondern da sein mit jedem Schritt. Unterwegs sein und doch auf der Stelle treten.

Es geht um die Kunst des Flanierens: Dass man sein Tempo verlangsamt und an jeder Ecke oder Weggabelung neu entscheidet, ob rechts oder links oder geradeaus – aus dem Bauch heraus die Richtung ändernd oder beibehaltend. Sich ausbreiten im Hier und Jetzt statt eingezwängt und nervös im Kaum-Zeit-Kontinuum zu zappeln. Doch eines muss klar sein: Wer so geht, macht sich verdächtig – in einer Welt, in der wir von Termin zu Termin jagen und immer neuen Zielen hinterherhetzen. Vielleicht könnte man das ziellose Flanieren als Übung begreifen, für die wir uns täglich Zeit nehmen sollten. Damit wir irgendwann lernen, beides zu sein – zielstrebig und gegenwartsgewahr zugleich – und den tagträumenden Taugenichts, der sich vor unsere Tür gesetzt hat, hereinbitten in unser Leben.

So wie Hans Adelmann, der die Hundwiler Höhe vor seiner Haustür mehr als 2.000 Mal bestiegen hat und mittlerweile jeden Baum und jeden Grashalm kennt. Jetzt hat er ein Buch geschrieben mit dem Titel „Einfacher leben“, in dem er sein Lebensmotto nennt: „Den schmalen Grat finden, an dem die Zukunft und die Gegenwart aneinanderreichen, und diesem Grat folgen.“

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Hans Adelmann hat Glück gehabt. Weil er es verstand, die Möglichkeiten, die er hatte, abzuwägen und sich für seinen Weg zu entscheiden. Und Möglichkeiten hatte er genug – als Halbbruder von Frank Stronach, dem Gründer von Magna International, einem der größten Automobilzulieferer der Welt. Sie wuchsen miteinander in der Steiermark auf und als Frank Stronach, der damals noch Franz Strohsack hieß, seinen ersten Mitarbeiter brauchte, holte er Hans nach Toronto, wo ihre Visionen aufeinanderprallten: Frank wollte reich werden, Hans wollte das Glück im Kleinen finden. Beide haben es geschafft. Frank wurde Milliardär. Sein Wikipedia-Eintrag liest sich wie der manische Versuch, in wirklich allem auf der Welt Erfolg zu haben. Stronach hat Dutzende Unternehmen gegründet und einmal fast den deutschen Automobilkonzern Opel gekauft. Er züchtet Pferde, stiftet Krebskliniken, fliegt mit Privathubschraubern um die Welt und gründet fragwürdige Parteien.

Hans führt sein Weg nach dem Ausstieg aus dem Geschäft seines Bruders zunächst für einige Zeit in die kanadischen Wälder, dann in die Karibik, nach Panama, später nach Frankreich und schließlich gemeinsam mit seiner Frau in die Schweiz. Um Geld zu verdienen, nimmt er eine Stelle als Hausmeister an einer Schule in Wittenbach an. Er repariert Wasserhähne und dichtet Hausdächer ab. Die weiteren Angebote seines Bruders, sein einfaches Leben in der Schweiz aufzugeben, schlägt er aus. Das Glück, das er gefunden hat, funkelt nicht und besitzt nahezu keinen Tauschwert. Es ist eines, das am Wegesrand liegt. Eines, nach dem sich jeder bücken könnte.
Wenn Zeit dazu wäre.

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