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Foto: © Elly Johnson

Einen Moment, bitte! Über Genuss und die Wege dahin

In meiner Brust spüre ich eine unendliche Weite. Der Kopf ist frei und ich komme vom Denken ins Fühlen. Der Rucksack voller Verpflichtungen, Termine und Aufgaben fällt von meinen Schultern. Die Hektik des Alltags ist ausgebremst. Als würde ich an einer roten Ampel stehen und gezwungen sein, zu warten. Ein innerer Frieden breitet sich in meinem Körper aus. Ähnlich wie eine tosende Welle, die langsam aber sicher jede Zelle überschwemmt. Plötzlich nehme ich die kleinen, aber feinen Details mit sämtlichen Sinnen wahr. Die Zeit scheint stehenzubleiben, während sich der Takt der Gedanken verändert. Fühlt er sich so an, der Genuss?

Genuss hat viele Gesichter.

Den flaumigen Teig vom süßlich duftenden Kaiserschmarrn auf der Zunge spüren. In das Leben der Charaktere aus dem neuesten Krimiroman eintauchen. Mit ihnen fühlen, leiden, lieben, weinen. Von der Theaterloge dem bunten Treiben auf der Bühne beiwohnen. Einen Abend lang staunen, lachen und nachdenken. Nach vielen Stunden und Schweißperlen mit stolz geschwellter Brust hoch oben am Gipfel stehen. Das prickelnde Gefühl des heißen Wassers auf der Haut genießen, während man sanft in die schaumige Badewanne gleitet. All das sind Formen von Genuss. Die Liste könnte man unendlich fortführen. Denn Genuss ist für jeden etwas anderes.

Auf den ersten Blick scheint es, als bräuchte es für das Genusserlebnis nicht sonderlich viel. Als würde sich der Genuss auf dem Präsentierteller servieren. Zum Greifen nahe – überall und zu jeder Zeit. Und doch ist Genuss für viele von uns ein kostbares Gut. Ein Zustand, nach dem wir uns sehnsuchtsvoll verzehren. Der zwar allgegenwärtig ist, aber uns durch die Finger zu rinnen scheint, sobald wir ihn fassen wollen.

Ein Megatrend, der verpflichtet.

Das Handy veranstaltet wieder einmal ein Vibrationskonzert – den Whatsapp-Gruppen sei Dank. Ganz selbstverständlich verlasse ich die Küche, um den Unruhestifter zu suchen. Der Teekocher blubbert und pfeift alleine weiter. Ich möchte schließlich wissen, wer mir geschrieben hat. Meine Antwort auf die Nachrichten folgt prompt. Erledigt ist erledigt und mein soziales Verantwortungsgefühl macht einen Freudensprung. Und wo ich schon einmal das Handy in der Hand halte, kann ich auch gleich einen Blick in meine Social-Media-Apps riskieren. Nicht, dass ich noch etwas verpasse. Vielmehr automatisiert als aufmerksam scrolle ich durch eine Flut an Fotos, Videos, Werbeanzeigen und Nachrichtenbeiträgen. Vieles nehme ich nur peripher wahr. Als mein Gehirn dennoch einen Aufnahmestopp ausruft, lege ich das Handy endlich zur Seite. Mein Kopf ist voll, aber meine Tasse bleibt an diesem Morgen leer. Keine Zeit mehr für Tee.

Im Laufe des Tages bewältigen die meisten Menschen unzählige E-Mails, Anrufe und Nachrichten. Von allen Seiten prasseln Informationen auf uns ein. Der Megatrend Konnektivität beschreibt das Prinzip der Vernetzung auf Basis digitaler Infrastrukturen im 21. Jahrhundert. Zunehmend fällt es Menschen schwer, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Wir bestellen online, während eigentlich der Spielfilm läuft, den wir uns so gerne ansehen wollten. Telefonieren parallel zum Aufhängen der Wäsche oder während am Herd das Abendessen köchelt. Versinken in unserem Laptop, anstatt einen Blick aus dem Zugfenster zu werfen und Hügel und Horizonte zu beobachten. Stellt sich die Frage: Was machen wir eigentlich, ohne noch etwas nebenbei zu erledigen?

Eine wichtige Voraussetzung von Genuss ist Entschleunigung. Denn wer sich gestresst fühlt, kann nicht genießen. Für Genuss muss man sich Zeit nehmen und da wären wir bei einem ursächlichen Problem unserer heutigen Gesellschaft. Im Hier und Jetzt zu sein und an nur eine Sache zu denken erscheint in vielen Situationen eine Mammutaufgabe. Der innere Drang, ständig etwas zu tun oder mit anderen in Kontakt zu sein, wird zunehmend eine Bürde.

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In einer guten Geschichte versinken: Viel zu selten räumen wir uns eine Pause vom Alltagstrubel ein. Foto: © Matias North

Was Entschleunigung und Achtsamkeit mit Surfen zu tun haben

Journaling, Yogakurse, Meditationszentren, Waldbaden, Coachings, Retreats – die Menschen sind hungrig nach einem Ausbruch aus der überfüllten, überreizten und verkomplizierten Welt. Suchen nach Schlupflöchern, um dem täglichen Ansturm entfliehen zu können und den beschäftigten Geist endlich zur Ruhe zu bringen. „The Mindful Revolution“ prangte bereits 2014 auf dem Cover des „TIME“-Magazins. Und tatsächlich ist die Sehnsucht nach einer Auszeit von der Informationswelle nicht neu. Ganz im Gegenteil: Achtsamkeit hat ihre Wurzeln im Buddhismus. Kurz gefasst geht es bei Achtsamkeit darum, mit den Gedanken weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, sondern vielmehr in der Gegenwart zu sein. Auf den Alltag umgelegt bedeutet das: Im Bus nicht schon an das nächste Meeting und während der Gartenarbeit nicht an die Schularbeitstermine der Tochter zu denken.

» Du kannst die Wellen nicht stoppen, aber du kannst lernen, zu surfen. «

Jon Kabat-Zinn, Achtsamkeitstrainer

Das Satipatthana-Sutra gilt als einer der zentralen buddhistischen Texte der meditativen Achtsamkeitspraxis. In diesem Text wird beschrieben, wie Achtsamkeit entwickelt werden kann. Das Sutra lehrt Achtsamkeit in Hinblick auf den Körper sowie die Atmung, die Gefühle und den Geist. Durch Achtsamkeit sollen Hemmnisse wie Trägheit, Sorgen, Zweifel und Begierde erkannt werden. Auch ganz simple Sinnesempfindungen wie Schmecken, Riechen, Hören und Sehen werden durch die Achtsamkeitsmeditation ins Bewusstsein gerufen.

ZKBÖ_Magazin_Artikel_Genuss_PralinenGenuss intensiver wahrnehmen: Die Schokoladenmeditation

Nehmen Sie ein Stück Schokolade oder eine Praline in die Hand. Nehmen Sie die Schokolade genauer unter die Lupe: Welche Form und Farbe hat sie? Hat sie eine besondere Struktur? Halten Sie die Schokolade anschließend an ihre Nase und achten Sie darauf, wie der Duft sukzessive durch die Nasenlöcher strömt und welche Gedanken Ihnen dabei durch den Kopf gehen. Erinnert Sie der Duft an etwas? Löst er Gefühle in Ihnen aus? Legen Sie schließlich das Stück Schokolade vorsichtig auf Ihre Zunge und beißen sie es langsam durch. Welche Aromen entfalten sich? Wie ist die Konsistenz der Schokolade? Sobald sich die Schokolade verflüssigt hat, kann Sie langsam und bewusst hinuntergeschluckt werden.

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Wer die Wellen reitet, ist ihnen nicht ausgeliefert. Foto: © Linus Nylund

Mindfulness Based Stress Reduction

Dr. Jon Kabat-Zinn entwickelte 1979 an der Universitätsklinik von Massachusetts (USA) die Stressbewältigung durch Achtsamkeit (Mindfulness Based Stress Reduction, kurz MBSR). Dabei handelt es sich um ein auf Meditation und Yoga beruhendes Achtsamkeitsprogramm. Kabat-Zinn betont, wie wichtig es ist, eine wertfreie Haltung einnehmen zu können. Dies impliziert, die Dinge so wahrzunehmen, wie sie sind, anstatt die Umwelt unentwegt zu bewerten und demgemäß zu reagieren. Wer achtsam ist, ist darüber hinaus geduldig und vertraut auf sich selbst und das Gute des Seins. Achtsamkeit bedeutet aber auch, Akzeptanz in dem Sinne, alles so anzunehmen, wie es gerade ist und gleichzeitig loslassen zu lernen – seien es Gefühle, Gedanken oder Überzeugungen. Einfach im Moment zu sein, ohne ein Ziel oder eine bestimmte Agenda zu verfolgen und durch einen aufgeschlossenen Geist selbst bereits Bekanntes mit einem offenen und frischen Blick zu betrachten.

Hilft nur mehr ein Achtsamkeitskurs?

Achtsamkeit ist heute zu einem Modewort geworden, das in unzähligen Angeboten und Kursen fruchtet. Doch wie viel bleibt vom ursprünglichen Geist der Achtsamkeit noch übrig? Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Studien, welche die Wirksamkeit von Achtsamkeitstrainings auf unterschiedlichste Krankheitsbilder belegen. Aus den Reihen der Kritiker werden jedoch niedrige wissenschaftliche Standards vorgeworfen. Eine Diskussion hierüber würde jedenfalls den Rahmen dieses Artikels sprengen.

Dass kurzfristige, genussvolle Tätigkeiten wichtig für ein glückliches und erfülltes Leben sind, zeigt eine Studie von Katharina Bernecker und Daniela Becker. Wichtig ist dabei eine gesunde Balance zwischen langfristigen Zielen bzw. Selbstkontrolle und genussvollen Aktivitäten. Die Autorinnen betonen die Notwendigkeit, in Momenten der Entspannung und des Genusses keine Gedanken an widersprüchliche, langfristige Ziele zu richten. Kurzgefasst: Wer auf dem Sofa ständig an die Arbeit oder den Sport denkt, wird wenig Erholung verspüren. Nur auf der Couch zu liegen, führt selbstverständlich auch nicht zu purem Glück, denn wie so oft im Leben kommt es auf die richtige Mischung an.

Genussrezept

Völlerei gilt seit jeher als Laster des Menschen. Ihr steht die Tugend der Mäßigung gegenüber. Genuss muss aber nicht grenzenlos, übertrieben oder exzessiv sein, sondern ist vielmehr eine Frage der Qualität. Er ist gleichzusetzen mit positiven Emotionen wie Freude, Lachen, Wohlfühlen, Glück, Entspannen und Tagträumen. Genusspausen im Alltag sind wichtig, denn es sind Momente der Ruhe, in denen wir abschalten, ganz präsent und bei uns sein können.

ZKBÖ_Magazin_Artikel_Genuss_PralinenDie 7 Regeln des Genusses nach dem Psychologen Dr. Rainer Lutz:

1. Genuss braucht Zeit: Genuss benötigt Entschleunigung und ausreichend Zeit, um sich zu entwickeln.
2. Genuss muss erlaubt sein: Familiäre Hintergründe, Sozialisation oder Erziehungsstil müssen eine genussfreundliche Atmosphäre schaffen.
3. Genuss geht nicht nebenbei: Die Aufmerksamkeit muss vollständig auf den Genuss bzw. den Reiz, welcher den Genuss auslöst, gelenkt werden.
4. Weniger ist mehr: Genussmittel sind etwas Einzigartiges.
5. Wissen, was einem gut tut: Genuss ist individuell unterschiedlich.
6. Ohne Erfahrung kein Genuss: Um Genuss zu erfahren, muss die Wahrnehmung differenziert und die Sinne geschärft sein. Zu wissen, was einem guttut und gefällt, bedarf eines stetigen Lernprozesses.
7. Genuss ist alltäglich: Man benötigt keine besonderen Ereignisse, um genießen zu können, denn Genussreize und -momente gibt es auch im Alltag.

Hedonismus oder schierer Überlebensinstinkt?

Wir springen ein paar Jahrtausende zurück in das antike Griechenland. Schon damals stellte sich der Philosoph Epikur (341 v. Chr.) die Frage, wie Lust bzw. Genuss zu definieren seien. Sein hedonistisches Prinzip hat Epikur allerdings nur ex negative bestimmt: Lust ist Vermeidung von Unlust und Freisein von Schmerz, Furcht und Verlangen. Mittels Vernunft soll das Streben nach Glück geleitet und gezügelt werden. Unter dem höchsten Gut, der Lust, verstand Epikur genau genommen einen inneren Seelenfrieden bzw. eine Art Lebenslust, auf die seine Lehre als eigentliches Ziel ausgerichtet ist. Denn nicht der ausschweifende, immerwährende Genuss oder die ungebremste Befriedigung von Begierden erzeugen ein lustvolles Leben, sondern der Genuss eines jeden Tages und eines jeden Augenblicks. Nur wer maßvoll und gerecht ist, kann Epikurs Ansicht nach glücklich leben.

Zurück in der Gegenwart wissen wir mittlerweile, dass das Streben nach Genuss und Wohlbefinden tief in unserem Nervensystem in einer Art hedonistischen Landkarte verankert ist. Genüsse wie Nahrungsaufnahme oder Sex dienten früher dem Überleben und somit der Arterhaltung. Aus diesem Grund verbindet unser Gehirn diese Vorgänge mit einem Belohnungsmechanismus, bei dem unter anderem das „Glückshormon“ Dopamin freigesetzt wird. Dieses wirkt wie ein Antriebsmotor und veranlasst uns, damit verbundenes Verhalten immer wieder zu wiederholen.

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Es bedarf verschiedenster Zutaten, um Genuss erleben zu können. Foto: © Bermix Studio

Genuss verbindet

» Kein Genuss ist vorübergehend, denn der Eindruck, den er zurücklässt, ist bleibend. «

Johann Wolfgang von Goethe

Langsam fließt die flüssige Schokoladenmasse aus der Schöpfkelle des Lindt Maître Chocolatier. Wie Schnee rieseln Nüsse, Kokosflocken und Nusssplitter vom Löffel. Treffen auf die noch warme, weiche Schokolade und verschmelzen mit ihr zu einer köstlichen Einheit. Auf allen Gesichtern zeichnet sich ein breites Lächeln ab. Die unwiderstehlichen Aromen verbreiteten sich unverzüglich im Raum. Eine wahre Verführung der Sinne.

Es ist das Sommerfest der Zürcher Kantonalbank Österreich AG. Zur Feier des zehnjährigen Bestehens kreieren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Rahmen eines kleinen Wettbewerbs die Rezeptur für die Jubiläumsschokolade. Eifrig wird getüftelt, gekostet und mit viel Liebe zum Detail verziert. Immer unter den neugierigen Blicken der Mitstreiter. In Stücke gebrochen warten letztlich 25 Schokoladentafeln auf ihre Verkostung.

Schlussendlich ist die Entscheidung gefallen und der Sieger auserkoren. Eine dunkle Schokolade mit Kokosflocken und Erdbeer-Zucker hat an diesem Tag die Gaumen verzaubert und wird vom Maître Chocolatier in einer limitierten Auflage von 1.100 Stück von Hand geschöpft, verziert und verpackt. Ein Genussstück, das man sich für einen besonderen Moment aufheben sollte. Einen, in dem man sich Zeit für sich selbst einräumt. Auf seine innere Stimme hört und die Mühlen des Alltags zum Stillstehen kommen. Ein Moment, der bewusst mit allen Sinnen erlebt wird. Ganz so wie in jenem Augenblick, als diese Tafel Schokolade ihre Entstehung fand.

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